Der Sammler
Es war einmal eine Familie: Vater im Ruhestand, Mutter im Ruhestand und zwei Töchter. Der Vater war leidenschaftlicher Sammler – „Kulturgut erhalten“ war sein Wahlspruch. Die Welt war in Ordnung, man wohnte in einem Zweifamilienhaus, die Schulden waren abbezahlt. Beide Töchter waren verheiratet, die älteste hatte bereits eine Tochter.
Die Eltern wünschten sich, dass eine der Töchter mit ihrer Familie im Haus wohnt.
Man kam überein, dass die älteste Tochter mit ihrer Familie im Haus wohnen bleibt, da die jüngere Tochter zu diesem Zeitpunkt noch kein wirkliches Interesse hatte. Die Wohnung wurde notariell überschrieben, und die jüngere Tochter wurde von der älteren großzügig abgefunden. Die mündliche Aussage, dass die ältere Tochter nach dem Ableben der Eltern ihre Schwester auszahlen und so das ganze Haus übernehmen könne, wurde nicht schriftlich fixiert, da man sich gegenseitig vertraute.
Die bis dahin jahrzehntelang vermietete Wohnung wurde von der ältesten Tochter mit viel Aufwand kostspielig renoviert – aber nicht nur die Wohnung, sondern das ganze Haus wurde saniert und modernisiert.
Alle waren zufrieden (oder doch nicht?) und man feierte gemeinsam Familienfeste. Es war eine ganz gewöhnliche Familie. Sogar in der Coronazeit hat man in der Freizeit miteinander musiziert. Alles schien in Ordnung.
Aber im Leben ist nicht immer alles einfach.
Sucht ist eine Krankheit. Sucht muss nicht immer die Schuld des Süchtigen sein, sie kann einen auch leise befallen. Und Sucht muss nicht immer mit Drogen oder Alkohol zu tun haben – Sucht kann auch bedeuten, sich immer wieder ein Glücksgefühl zu erkaufen, zum Beispiel auf einem Flohmarkt.
Die Familie wurde zweifach getroffen. Die Enkelin war der Ecstasy-Schwemme an den Schulen in den 2010er-Jahren ausgeliefert, und durch den Umgang mit falschen Freunden wurde sie 2012 ein Opfer der Drogen.
Der Kampf gegen die Drogen war kräftezehrend und endete nicht gut. Mit dem Tod der Tochter zerbrach auch die Familie der ältesten Tochter.
Die jüngere Tochter hatte zwei Söhne bekommen und mit der Auszahlung sowie großzügiger Unterstützung ihrer Eltern zusammen mit ihrem Mann ein Eigenheim erworben. Wohlbehütet wuchsen diese auf und waren nun die Lieblinge der Großeltern.
Bisher war die älteste Tochter der Liebling des Sammlers. Sie hatte ihn immer unterstützt, wenn er gewisse Ideen hatte – so hatte sie ihm unter vielem anderem einen Blog im Internet erstellt und ihn unterstützt, als er seine Idee für ein Buch hatte. Viele Male half sie ihm bei Vorträgen sowie bei Berichten und Auswertungen für seine Tätigkeit als Trainer. In all den Jahren machte sie das gerne. Die jüngere Tochter war in diesen Jahren nie zugegen und lehnte Hilfe so gut wie immer ab.
Eine Sucht ist meist eine Spirale, die immer stärker wird, und der Süchtige ist nur noch darauf fixiert, sein Ziel zu erreichen: das Glücksgefühl zu wiederholen. Es verlangt von allen unmittelbar Betroffenen viel Verständnis, wenn im Falle einer Sammelsucht alles zugemüllt wird – und Konflikte bleiben nicht aus.
Der Süchtige kann das nicht verstehen.
Die älteste Tochter fand einen neuen Partner. Der Sammler rettete Kulturgut und sammelte im Sommer weiter Schätze in der Garage. Jeden Herbst wurde die Garage geräumt – zumindest sollte das Auto im Winter hinein –, doch freie Plätze im Haus wurden weiter gefüllt. Mit den Jahren wurde es jedoch immer schwerer, Platz zu finden. Es musste eine Lösung her.
Also erwarb er eine Scheune.
Jetzt hatte er Platz und konnte noch mehr sammeln. Ein Museum war sein Traum. Dann könnte er den Menschen zeigen, was er alles Gutes für die Allgemeinheit getan hatte, wie er Kulturgut erhalten hat.
Und so verbrachte er Tage allein in seiner Scheune und ordnete seine Schätze. Gerne lud er Leute ein, um sein Kulturgut zu besichtigen. Und natürlich stellten sich die Besucher eine Frage: „Warum? Für wen? Und was passiert mit all dem Kulturgut nach seinem Tod?“
Er konnte sich nicht vorstellen, dass all das Sammeln und das sparsame Leben unnütz gewesen sein sollten. Die Töchter hatten kein Interesse gezeigt, die Schwiegersöhne nicht viel mehr. Aber was war mit den Enkeln? Vielleicht hatten sie Interesse?
Eine Idee war geboren: Die Enkel sollten es richten. Mit dieser Idee konfrontierte er seine älteste Tochter. „Ich vererbe alles meinen Enkeln.“
Die ursprüngliche Aussage, dass das Erbe zwischen den Töchtern aufgeteilt werden sollte, war Geschichte. Kulturgut hatte Vorrang.
Es kam, wie es kommen musste – wie in vielen Erbstreitereien: Es wurde hässlich.
Alle Bekundungen, dass es eine Abmachung gab, wurden ignoriert, und es kam zum Bruch mit der ältesten Tochter, da diese nicht mehr bereit war, die zahlreichen EDV-Probleme ihres Vaters zu lösen und dachte, das könnten in diesem Falle die fast erwachsenen Enkel (also die Erben) erledigen.
In der Zwischenzeit hatte die jüngere Tochter die Gelegenheit, ein Haus in unmittelbarer Nachbarschaft zu erwerben. Immer ein wenig zurückgesetzt von ihrem Vater, sah sie die Chance, sich an die erste Position zu bringen. Und so kam es auch zum Bruch mit ihrer älteren Schwester. Die Unterstellungen durch ihre Schwester, unter anderem am Tod der Tochter schuld zu sein, waren einfach zu viel für die ältere Schwester.
Die ältere Tochter zog sich also zurück, und die jüngere sah keine Notwendigkeit, beschwichtigend einzuwirken. Im Gegenteil: In Abwesenheit der älteren Schwester wurde der Keil immer weiter hineingetrieben, immer neue, unwahre Unterstellungen wurden in Umlauf gebracht.
Die Familie war zerstört.
Der Sammler ging Tag ein, Tag aus in sein Reich, grübelte vor sich hin und wurde depressiv.
Seine Lebensfreude am Sammeln starb. Nur noch gelegentlich ging er auf Flohmärkte. Seine Enkel kamen auch nur auf Zuruf. Interesse bestand nicht.
Und so kam es, dass er ein Jahr nach seinem Bruch mit der ältesten Tochter starb.
Frieden war in die Familie nicht eingekehrt – im Gegenteil. Die jüngere Tochter riss alles an sich und informierte die Ältere über nichts. Diese wurde weder an der Beerdigungsorganisation beteiligt, obwohl sie die jüngere Schwester schriftlich darum gebeten hatte, noch wurde sie zum „Leichenschmaus“ eingeladen.
Bei der Trauerfeier kippte sein Bild auf den Boden, und die Scheibe zerbrach. War das ein Zeichen? Hatte er erkannt, was er ausgelöst hatte?
Das nächste Ziel – die Mutter von der älteren Schwester abzuschirmen – wurde kurz nach der Beerdigung erreicht. Der älteren Schwester blieb nichts anderes übrig, als sich zurückzuziehen.
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